Frage: Dr. Reinke, 1980 wurde der erste Defibrillator implantiert. Seitdem werden immer mehr Defis implantiert und immer häufiger auch vorsorglich. Wie haben sich seit der Pionierzeit eigentlich die Implantationszahlen entwickelt?
Dr. Florian Reinke: Die Implantationszahlen haben sich seit dieser Zeit drastisch weiterentwickelt. In der ersten Zeit wurden Defis in erster Linie bei Patienten implantiert, die einen Plötzlichen Herztod überlebt hatten. Das sind die ersten Jahre gewesen. Dann hat man angefangen zu überlegen, ob man nicht auch Patienten identifizieren kann, die ein gewisses Risiko haben, einen Plötzlichen Herztod zu erleiden – wodurch man eine sehr, sehr große Gruppe Patienten identifiziert hat, die tatsächlich ein erhöhtes Risiko haben, einen Plötzlichen Herztod zu erleiden. Mit Kenntnis dieser Gruppen sind dann die Implantationszahlen noch einmal deutlich angestiegen und wir sind jetzt seit Jahren auf einem relativ stabilen Niveau. Wir implantieren in Deutschland jedes Jahr rund 30.000 Defis neu. Dazu kommen Aggregatwechsel bei Batterieerschöpfung. Das sind etwa 10.000 Eingriffe pro Jahr. Diese Zahlen sind seit einigen Jahren relativ konstant.
Frage: Sind die Zahlen hoch im Vergleich zu anderen Ländern?
Dr. Florian Reinke: Ja, gerade im europäischen Vergleich: Ich denke hier an die Schweiz, Dänemark oder Schweden. Wir implantieren zum Beispiel doppelt so viele Defis wie die Kollegen in Schweden das tun, ohne eine deutlich längere Lebenserwartung zu generieren.
Frage: Kann man denn sagen, dass ein ICD allen Patientengruppen gleich gut nutzt? Oder gibt es Faktoren, die Einfluss auf die Effizienz eines Defis haben?
Dr. Florian Reinke: Wir unterscheiden im Wesentlichen zwei Gruppen von Patienten, denen man Defis implantiert: das eine ist die Gruppe der Patienten, die einen solchen Plötzlichen Herztod schon überlebt haben. Deswegen nennt man das auch eine sekundärprophylaktische Versorgung. Das heißt ein Patient hat ein Ereignis überlebt, hat eine Rhythmusstörung gehabt. Dem gegenüber steht eine sehr viel größere Gruppe von Patienten: Das sind die Patienten, die aus einer primärprophylaktischen Erwägung heraus einen Defibrillator bekommen. Das sind eben genau diese Patienten, die ich beschrieben habe: sie haben ein gewisses Risiko, einen Plötzlichen Herztod zu erleiden ohne dass bislang eine Rhythmusstörungen aufgetreten ist. Das sind Patienten, die auch von einem Defi profitieren. Mittlerweile implantieren wir ca. Drei Viertel aller Defis aus eben dieser letztgenannten Konstellation – also aus primärprophylaktischen Erwägungen. Und natürlich ist es so, dass diese Patienten nach einer solchen Defi-Implantation sehr viel weniger Ereignisse haben. Das heißt, sie haben weniger Rhythmusstörungen, als Patienten, die ein solches Ereignis schon überlebt haben. Die Wahrscheinlichkeit einer adäquaten oder erforderlichen Therapie durch einen Defi ist in der Gruppe, die ein Ereignis schon überlebt haben, eine Rhythmusstörung gehabt haben, sehr viel höher als es in der reinen Primärprophylaxe der Fall ist.
Frage: Die Leitfrage Ihres Vortrags bei der Defi-Tagung heute lautete: Implantieren wir zu viele ICDs? Welchen Standpunkt vertreten Sie als implantierender Kardiologe dazu?
Dr. Florian Reinke: Insgesamt glaube ich, dass wir zu viele Defis implantieren. Wir tun das ja aufgrund der Leitlinien, die Fachgesellschaften wie die Deutsche Gesellschaft für Kardiologie oder die Europäische Fachgesellschaft uns geben. Und diese Leitlinien fußen auf wissenschaftlichen Studien zu diesen Ereignissen, zum Risiko für plötzliche Rhythmusstörungen.
Man muss wissen, dass diese Studien alle relativ alt sind. Wir reden von Studien, die im Jahr 2002 bzw. 2005 veröffentlicht worden sind. Das wiederum heißt, dass die Datensammlung und die Patienten-Nachbeobachtung für diese Studien entsprechend im Vorfeld stattgefunden haben. Die Medizin hat sich aber ja sehr geändert. Wir machen heutzutage eine ganz andere Kardiologie. Wir behandeln Herzinfarkte effektiver und sehr viel schneller, als das früher der Fall gewesen ist. Uns stehen andere Medikamente zur Verfügung und es sind auch mehr Patienten heutzutage mit allen notwendigen Medikamenten versorgt. Das haben sowohl Hausärzte wie auch Kardiologen sehr gut im Blick. Die Medizin heutzutage ist viel moderner. Eigentlich müssten die genannten Studien, die das Risiko für die plötzlichen Rhythmusstörungen, für den Plötzlichen Herztod, konstatieren, neu aufgelegt werden. Wenn man das tut, glaube ich, dass es gewisse Patientengruppen gibt, die dann heutzutage keinen Defi mehr bekommen würden, weil sie ihn nicht brauchen. Es gibt ein paar Faktoren, die dabei eine ganz wichtige Rolle spielen: das ist der Faktor Alter und das ist der Faktor der Nierenfunktionseinschränkung. Ich glaube, das sind im Wesentlichen zwei Punkte, die man sich als Kardiologe gut angucken muss – weil wir natürlich wissen, dass der ältere Mensch wahrscheinlich nicht mehr so von der Defibrillator-Therapie profitieren wird, wie es beim jüngeren Menschen der Fall ist. Wir wissen auch, dass Patienten, die mit einer Nierenfunktionseinschränkung leben müssen, keine so gute Lebensprognose mehr haben wie Patienten mit einer normalen Nierenfunktion. Das sind alles Aspekte, die unstrittig eine Rolle spielen und die auch heutzutage in der Entscheidungsfindung schon eine Rolle spielen – aber ich glaube, noch nicht so ganz konsistent umgesetzt werden, wie es eigentlich nötig wäre.
Die Frage der Defi-Implantation muss mit dem Patienten ganz individualisiert besprochen werden. Dabei spielen ja auch viele Faktoren seitens des Patienten eine Rolle, das muss vielleicht an dieser Stelle auch noch einmal klar formuliert werden: Man geht da nicht einzig und alleine nach Zahlen. Es gibt auch keine Altersgrenze, ab der wir keinen Defi mehr implantieren. Es gibt auch keinen Kreatininwert – das ist ein Nierenwert, den wir bestimmen können – ab dem man keine Defis mehr implantiert. Solche „formalen“ Grenzen gibt es in Deutschland nicht. Aber ich glaube schon, dass diese beiden Aspekte etwas mehr Berücksichtigung finden müssten. Und wenn man diese Daten – diese Studien, von denen ich eben gesprochen habe – noch einmal neu auflegt, glaube ich, dass man zurückhaltender wäre bei der einen oder anderen Konstellation.
Vielen Dank!
Das Gespräch führte: Birgit Schlepütz
Foto: Ilona Kamelle-Niesmann