Birgit Schlepütz: Wer positiv denkt, dem geht es gut, bei dem läuft es einfach im Leben. Dies scheint ein Narrativ zu sein, das in der Mitte unseres Denkens angekommen ist. Wie kommt das?

Dr. Susanne Kolter: Wir leben in einer glücksverliebten Kultur. Wir sind fit, schön, gesund, positiv. Das suggerieren nicht nur die Medien von der Werbung über Zeitschriften bis zur Selbsthilfeliteratur. Wir tun dies auch selbst, indem wir über unser Familienglück und unsere Erfolge erzählen oder die Glanzpunkte unseres Lebens auf Plattformen wie Instagram demonstrieren. Bei wem das nicht so ist, der macht offensichtlich etwas falsch. Das ist im besten Falle Pech und im schlimmsten Falle sein oder ihr Fehler, seine oder ihre Schuld.

BS: Nach dieser Logik machten also diejenigen etwas falsch, die leiden und auch noch darüber sprechen.

Dr. Susanne Kolter: Wer über das eigene Unglück spricht, ungeschönt die eigene Angst, Sorge, Belastung, Schmerzen ausbreitet, verstößt anscheinend gegen das Gebot dieses positiven Denkens. Krankheiten oder Krisen sind ein gutes Beispiel: Sie sind erst erzählenswert, wenn sie überwunden sind – weil sie dann eben eine Erfolgsgeschichte sind. Doch Menschen wollen und müssen meines Erachtens irgendwohin mit ihren Klagen; sollten alles sagen können, ohne dass sie zu hören bekommen: „Stell dich nicht so an, andere haben es auch schwer.“, oder „Andere hat es noch viel härter getroffen.“ Und sie sollten es auch zwei-, drei-, vielleicht sogar 100-mal sagen dürfen, ohne dass jemand genervt oder gelangweilt die Augen verdreht.

BS: Ihr Arbeitskreis traf sich zu dem Thema: Es ist mein gutes Recht, vor Gott und der Welt zu klagen. Welche Rolle, welche Bedeutung spielt Gott dabei?

Dr. Susanne Kolter: Gerade in der jüdischen und christlichen Tradition hat die Klage vor Gott eine lange Geschichte, die heute manchmal etwas aus dem Blick rutscht: Gott den eigenen Schmerz, den eigenen Zorn, zu klagen und, ja, auch diesen Gott anzuklagen. Dafür gibt es eine eigene biblische Gattung: Die Psalmen. 150 sind davon in der Bibel versammelt. Sie stammen aus dem ersten vorchristlichen Jahrtausend und haben unterschiedliche Anlässe, Anliegen und Zielrichtungen. Zum Beispiel Lob, Dank, Hymnus oder Liturgie. Die bei weitem größte Gruppe ist aber mit ca. 40 Texten die der sogenannten Klagelieder des Einzelnen.

BS: Wie können die Psalmen beim Klagen helfen?

Dr. Susanne Kolter: Dort kommen menschliche Grunderfahrungen wie Angst, Leid, Schuld und mehr zur Sprache. Weil sich Leibsphäre und Sozialsphäre im antiken Menschenbild entsprochen haben, wird dort auch nicht streng zwischen körperlicher oder sozialer Bedrängnis oder Ursache differenziert. Das heißt: Das Elend wird konkret und offen benannt, eine individuelle Biografie der klagenden Person wird aber nicht erkennbar. Auch die Sprache bleibt generalisierend und allgemein. Dies alles macht die Psalmen auch über die Zeiten und persönlichen Belange hinweg „nachsprechbar“. Sie bleiben aktuell, können aber auch tatsächlich aktualisiert werden. Ich weiß zum Beispiel von Schülerinnen und Schülern einer 6. Klasse, die im vergangenen Jahr im Religionsunterricht vor dem Hintergrund der Psalmen eigene, sehr eindrückliche (Sprach)Bilder für ihre Erfahrungen mit der Pandemie entwickelt haben.

BS.: Wie halten Sie es mit dem Klagen?

Dr. Susanne Kolter: Unter Klagen verstehe ich nicht grundloses Jammern, sondern eine zutiefst empfundene menschliche Notwendigkeit. Vielleicht ist Klagen das Gegenteil von positivem Denken, aber es ist nicht das Gegenteil von Hoffnung! Ich bin überzeugt, dass Menschen, die klagen, Hoffnung haben. Aus diesem Verständnis heraus haben Menschen tatsächlich das Recht zu klagen, und zwar nicht nur gegenüber ihren Mitmenschen, sondern auch gegenüber Gott. Mehr noch: Aus diesem Verständnis heraus ergibt sich zugleich der Appell an alle, nicht damit aufzuhören, die Klage anderer zu hören.

BS.: Ohne Details zu nennen: Wie ist die Diskussion in Ihrem Arbeitskreis verlaufen?

Dr. Susanne Kolter: Inhaltlich gab es durchaus widersprüchliche Meinungen, die von „Klagen bringt nichts“ über verschiedene Abstufungen bis zu „Man muss sich persönlich entlasten“ reichten. Auch das „Klagen vor Gott“ wurde angeregt und durchaus kontrovers diskutiert. Was jedoch immer spürbar blieb, war die offene und vorurteilsfreie Atmosphäre, die unter den Teilnehmenden herrschte. Alleine die Gelegenheit, unterschiedliche Perspektiven in einem geschützten Rahmen diskutieren zu können, hat das Gespräch geöffnet, so war zumindest mein Eindruck. Einige Teilnehmerinnen und Teilnehmer kannten einander bereits von anderen Tagungen oder Treffen, andere waren aber zum ersten Mal dabei. Und doch haben sich alle unbefangen an das Thema herangetastet. Vielleicht, weil hinter jeder individuellen Geschichte auch eine kollektive Krisenerfahrung steht, die alle eint.

Foto: Ilona Kamelle-Niesmann