Zur allgemeinen Einordnung klärte Professorin Pfleiderer zu Beginn ihres Vortrags drei wesentliche Begriffe, die manchmal durcheinandergeraten: So bezeichnet „Gender“ das sogenannte soziale Geschlecht, das sich durch politische, soziale, historische und ökonomische Umstände formt. Mit Gender gemeint sind also alle mit der Geschlechterrolle assoziierten Aspekte. „Sex“ hingegen bezeichnet das biologische Geschlecht, das männliche, weibliche und intersexuelle Menschen unterscheidet. Der Begriff „Geschlecht“ wiederum wird in der deutschen Sprache als Oberbegriff für beide Begriffe verwendet.
Medizin ist nicht geschlechtsneutral
Lange Zeit galt der männliche Körper als Maßstab in der Medizin. Frauen galten als „komplizierter“, ihre Beschwerden wurden nicht selten psychologisiert – gerade dann, wenn es um Herzprobleme oder Schmerzen ging. Ein Fehler mit weitreichenden Folgen, wie Professorin Pfleiderer betonte. Denn Frauen und Männer unterscheiden sich nicht nur hinsichtlich ihrer Herzgröße, ihres Hormonhaushalts und ihres Immunsystems – sondern auch hinsichtlich typischer Symptome vieler Krankheiten. Anhand zweier Fallbeispiele – Herr Schuster mit Druck auf der Brust, Frau Piepenbrock mit Übelkeit und Nackenschmerzen – machte Professorin Pfleiderer letzteres sehr konkret deutlich. Die Folge: Während beim Mann der Infarkt häufig als solcher erkannt wird, werden „unspezifische Beschwerden“ bei Frauen oft falsch eingeordnet – etwa als Migräne, Stress oder gar Panikattacke. Viele Betroffene und leider auch medizinisches Personal ordnen solche Symptome nicht richtig – und oft auch nicht rechtzeitig - ein. Frauen kommen daher später in die Notaufnahme, erhalten später Hilfe – und haben dadurch ein höheres Risiko zu versterben. Nicht nur beim Herzinfarkt zeigt sich dieser Unterschied. Auch bei Herzrhythmusstörungen oder bei der Reaktion auf Medikamente spielen Geschlecht und Hormonlage eine wichtige Rolle. So wirken manche Arzneimittel bei Frauen anders als bei Männern, weil sie einen anderen Stoffwechsel oder eine andere Hormonverteilung haben. Trotzdem wurden viele Medikamente über Jahrzehnte hinweg fast ausschließlich an Männern getestet.
Von Frauen, Kochschulen und Hirngewichten – wie alles begann
Um zu verstehen, warum geschlechtersensible Medizin heute so wichtig ist, lohnt sich ein Blick zurück. Professorin Pfleiderer nahm ihre Zuhörerschaft im voll besetzten Thomas-Morus-Saal der Akademie Franz Hitze Haus dazu mit auf eine Reise in die Geschichte. Hinein in eine Zeit, in der Frauen nicht nur von der medizinischen Versorgung, sondern auch von der medizinischen Ausbildung weitgehend ausgeschlossen waren. Denn: erst Anfang des 20. Jahrhunderts durften Frauen überhaupt Medizin studieren. Doch selbst dann mussten sie sich gegen viele fachliche wie gesellschaftliche Vorurteile durchsetzen. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel: Noch vor gut 100 Jahren galten Männerhirne als „überlegen“, weil sie im Durchschnitt etwa 100 Gramm schwerer sind als Frauenhirne. Was dabei ignoriert wurde: Entscheidend ist nicht das absolute Gehirngewicht, sondern das relative, welches auf Körpergewicht und Körpergröße einer Person bezogen ist. Nimmt man das relative Gehirngewicht als Grundlage, dann unterscheiden sich männliche und weibliche Gehirn in Bezug auf das Gewicht gar nicht mehr. Unterscheiden tun sich allerdings Hirnstruktur und die Vernetzung von Nervenzellen im Gehirn. Heute weiß man: Es gibt zwar Unterschiede, aber die Leistungen beider Geschlechter sind vergleichbar.
Schmerzhafte Vorurteile
Auch in der Schmerzmedizin schlagen sich bis heute veraltete Rollenbilder nieder. Frauen galten als „nervenschwach“ – oder umgekehrt als erstaunlich duldsam, je nachdem, welche Sichtweise gerade passte. Nach Operationen etwa wurden ihre Schmerzen früher oft gar nicht dokumentiert. Bei Männern hingegen wurden Beschwerden detailliert beschrieben. So entstanden über Jahrzehnte stereotype Vorstellungen, die sich – teils unbewusst – bis heute in der Diagnostik und Behandlung niederschlagen. Das zeigen zum Beispiel Studien, die belegen, dass Frauen bei gleichen Beschwerden häufiger mit Beruhigungsmitteln therapiert werden, während Männer Schmerzmittel erhalten. Diese verzerrte Wahrnehmung hat dazu geführt, dass weibliche Schmerzpatientinnen auch heute noch seltener Schmerzmedikamente erhalten und dadurch schlechter behandelt werden als männliche.
Die Macht der Hormone
Dass Hormone eine wichtige Rolle im Herz-Kreislauf-System spielen, ist wissenschaftlich gut belegt. Östrogene, also weibliche Geschlechtshormone, wirken zum Beispiel gefäßschützend und entzündungshemmend. Daher bieten sie Frauen bis zur Menopause eine Art natürlichen Schutz vor Herzinfarkt. Nach den Wechseljahren jedoch steigt das Risiko für Frauen deutlich an – und damit auch das Risiko für Herzrhythmusstörungen oder Schlaganfälle.
Geschlechtersensible Medizin rettet Leben
© I. Kamelle-NiesmannFrauenherzen sind im Durchschnitt kleiner, schlagen schneller und reagieren empfindlicher auf bestimmte Einflüsse – das beeinflusst sowohl die Diagnose als auch die Therapie. Wer das nicht berücksichtigt, riskiert Fehleinschätzungen und falsche Behandlungen. Deshalb plädierte Prof. Pfleiderer leidenschaftlich für mehr Achtsamkeit gegenüber geschlechtsabhängigen Unterschieden in der Medizin. Eine Aufgabe, die im Hinblick auf die weltweit polarisierend geführte Geschlechterdebatte inklusive staatlicher Reglements nicht einfacher wird. „Diesen Vortrag“, so Professorin Pfleiderer, „könnte ich zum Beispiel unter den gegenwärtigen Umständen in den USA nicht halten. Dort gibt es jetzt offiziell nur noch zwei Geschlechter.“ Dabei gehe es bei der geschlechtersensiblen Medizin überhaupt nicht darum, eine Gruppe gegen die andere auszuspielen, sondern darum, dass Jeder und Jede eine bestmögliche Versorgung bekomme. Dazu gehöre auch, dass Ärztinnen und Ärzte lernten, geschlechtersensibel zu kommunizieren, dass Medikamente an beiden Geschlechtern getestet werden – und dass Patientinnen und Patienten sich trauen, ihre Symptome klar zu benennen, auch wenn sie „nicht typisch“ sind. Professorin Pfleiderers Appell zum Schluss: „Wir brauchen eine Medizin, die Menschen sieht – nicht nur Organe. Eine Medizin, die Unterschiede nicht ignoriert, sondern nutzt, um besser zu helfen.“ Dem Applaus und den zahlreichen Fragen nach zu urteilen, sahen das die Gäste ganz genauso.
© I. Kamelle-Niesmann
Text: Birgit Schlepütz
Quelle: Vortrag Prof. Dr. Dr. Bettina Pfleiderer